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Ein großes Buch – Bierbichlers Mittelreich

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„Ein Buch, ein Buch! Mein Königreich für ein gutes Buch!!“ Dieses leicht abgewandelte Zitat von König Richard III. aus Shakespeares Feder rief ich wenige Tage nach dem Ende meines Studiums. Übersättigt von wissenschaftlichen Aufsätzen und Sachbüchern, schrie mein Hirn verzweifelt nach Nahrung, nach Fiktion und Unterhaltung. Nur, was sollte ich lesen?

In weiser Voraussicht, dass ich mir diese Frage irgendwann einmal wieder stellen würde, hatte ich mir bereits im letzten Herbst eine ellenlange Leseliste erstellt, die ich in den nächsten Jahren (oder eher: Jahrzehnten) abzuarbeiten gedenke und fortlaufend ergänze.

Ganz oben auf der Liste steht der Roman „Mittelreich“ von Josef Bierbichler. Erschienen im letzten Herbst im Suhrkamp-Verlag, hochgelobt und erst der zweite Roman des 64-jährigen Autors, war es mein großer Wunsch, dieses Buch endlich, endlich lesen zu können. In Ruhe, wohlverdient, hoch konzentriert.

Meine Erwartungen und Ansprüche an dieses Buch waren enorm. Zum einen bedingt durch die Rezensionen in FAZ und Co. Vor allem aber durch die Person des Autors, Sepp Bierbichler. Dieser einzigartige deutsche Film- und Theaterschauspieler, dessen Aura und Präsenz mich schon in so vielen Stücken gefesselt hat.

Und, was soll ich sagen. Meine Erwartungen sind vollkommen erfüllt und sogar noch weit übertroffen worden. „Mittelreich“ ist ein Buch, das ich bedingungslos weiterempfehle, ja, ich dränge euch dazu, es zu lesen. Die Kraft und Wucht, die der Autor auf der Bühne und im Film aufbringt, steckt auch in jedem einzelnen Satz dieses großen Romans.

Worum geht es?
Über drei Generationen hinweg wird die Geschichte einer Bauers- und Seewirtsfamilie im tiefsten Bayern vor dem ersten großen Krieg bis zur Gegenwart erzählt. Bierbichler verwebt die Lebensläufe der Protagonisten überaus gekonnt mit der deutschen Vergangenheit, den Kriegen und Untergängen, der Verdrängung des Gewesenen und dem (vermeintlichen) Aufstieg im Wirtschaftswunderland.

Gefesselt an das Erbe und an die Pflichten, die der Besitz mit sich bringt, kämpfen sich der Seewirt und seine Nachkommen durch das bayerische Leben. Sie zerbrechen an den Zwängen, der Prüderie und der Bigotterie im Dorfleben, das nur aufgemischt und gespiegelt wird durch die „nackerten“ Touristen aus der Stadt. Diese bringen zwar Geld in das arme Bauerndorf im Voralpenland, müssen aber achtgeben, dass sie nicht von wütenden Grundbesitzern mit Jauche eingesprüht werden.

Der Autor kennt dieses Milieu aus eigener Erfahrung. Er ist selber der Sohn eines Seewirts. Er scheint sich nicht entscheiden zu können, ob er diesen Menschenschlag liebt oder hasst. Seine Sprache ist kunstvoll und gleichzeitig dialektreich, er beschreibt seine Figuren nicht selten liebevoll und lässt sie dann doch wieder vollends scheitern. Aber vermutlich ist das keine Unentschlossenheit, sondern die einzige Möglichkeit des Jungen vom Dorf, jetzt, im Alter mit viel Lebenserfahrung und Distanz, über das zu schreiben, was sich so oder ähnlich in vielen deutschen Dörfer abgespielt hat. „Die Erde ist keine Heimat“.

Ein großer Autor, ein großer Roman, ein großes Buch.

Josef Bierbichler: Mittelreich (Suhrkamp), 392 Seiten